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Mortalität - 11
 
 

Die hohe Müttersterblichkeit in vielen Entwicklungsländern widerspiegelt sich auch in der geringen Lebenserwartung der Frauen in diesen Regionen. Während in den industrialisierten Staaten die Lebenserwartung der Frauen in der Regel deutlich über jener der Männer liegt, ist dieses Verhältnis in den Entwicklungsländern größtenteils umgekehrt.
Ob für die von der Müttersterblichkeit unabhängigen Sterblichkeitsunterschiede zwischen Frauen und Männern biologische oder Verhaltensfaktoren verantwortlich sind, d. h. ob für die höhere Sterblichkeit der Männer eine evolutionsabhängige Relation von Populationsgröße und Überlebenswahrscheinlichkeit oder eine sexualspezifische Lebensweise Ursache ist, gilt nach wie vor als ungeklärt. Einer höheren Sterblichkeit der Jungen im Säuglings- und Kleinkindalter kann kaum ein sexualspezifisches Verhalten der Betroffenen, bestenfalls eine entsprechende Orientierung in den Familien unterstellt werden. Bei höheren Altersgruppen existieren allerdings Belege für eine eher soziale Beziehung zwischen Sterblichkeit und Geschlecht (vgl. DINKEL/LUY 1999). Letztlich dürften sich biologische und soziale Momente überlagern, wobei in Abhängigkeit von der jeweiligen Lebenssituation ein mehr oder weniger regelmäßiger Wechsel in der Dominanz unterschiedlicher Einflüsse der Realität wohl am nächsten kommt.
Das bestätigen auch jene demographische Forschungen, die zudem durch die spezifische Verknüpfung beider Ansätze mit dem soziobiologischen Modell der Lebensgeschichtsforschung eine Erklärung für verhaltensbedingte Risikopotentiale der Sterblichkeit ableiten. Neben die in älteren Ansätzen oft alternativ gegenübergestellten biologischen und sozialen Sterblichkeitsgründe wird also das Verhalten gesetzt, das im sozialen Kontext vielfach sexualspezifisch abläuft. Daraus wird ein eher integrativer Ansatz abgeleitet, der bei der Frage nach der Lebenserwartung nicht zwischen Biologie und Soziologie polarisiert (KLEIN 1995), sondern aus der Sichtweise konkurrierender Einflüsse ein "selektives Überleben" nach unterschiedlichen Risikofaktoren untersucht, woraus eine "Lebenserwartung im Rahmen biologisch-sozialer Determinanten" abgeleitet wird (WITTWER-BACKOFEN 1999, S. 253). Dabei kommen auch räumliche Aspekte zum tragen, wobei Sterblichkeitsunterschiede insbesondere zwischen hochurbanen Zentren und dem peripheren ländlichen Raum durch vielfältige soziale Vermittlungen bestimmt werden. Sie laufen nicht in jedem Falle auf Merkmale der Lebensweise hinaus, die sich z. B. in der beruflichen Tätigkeit, Traditionen und Gewohnheiten der Ernährung usw. zeigen, sondern reflektieren auch die Organisation der Gesellschaft, z. B. die Zugänglichkeit medizinischer Notversorgung in Problemsituationen.
Unter den sozialen und räumlichen Determinanten der Sterblichkeit bekommen in der modernen Gesellschaft aber auch solche Faktoren ein immer stärkeres Gewicht, die zunächst überhaupt nichts oder nur wenig mit Mortalität zu tun haben. Sie können vielfach sogar Ausdruck einer verbesserten Lebensqualität sein oder werden im allgemeinen bezüglich der Gesundheit eher als Bagatellen gewertet. Allerdings bestimmen sie im Laufe des Lebens vielfach die Neigung einzelner Personen zu bestimmten Krankheiten, was dann erst in Kombination mit anderen Einflüssen zur Bedrohung wird. Von besonderer Bedeutung ist dabei die immer geringere Fähigkeit der urbanen Menschen zur Aktivierung ihrer Selbstheilungskräfte sowie zu einer Vielzahl von Allergien und Hautkrankheiten (Neurodermitis). Hier schlagen vielfach regionale Unterschiede in der Lebensweise und im Lebensstil durch, letztlich Umstände, die zur Überempfindlichkeit sowie zur Dämpfung des Immunsystems führen können, wie z. B. eine übertriebene (!) Hygiene, die u. a. durch Überdosierungen von Waschmitteln und diesbezüglich eigentlich unnötigen Begleitstoffen (Weichspüler, Duftstoffe) gekennzeichnet sind, aber auch oft unnötige Medikationen.
Im deutschen Ost-West-Vergleich der häufigsten Beschwerden ("allgemeine gesundheitliche Beeinträchtigung") fallen die Differenzen der Häufigkeit von Erkältungskrankheiten und Kopfschmerzen auf, die oftmals miteinander korrelieren. Mit jeweils über einem Drittel Betroffener ist dabei die Bevölkerung in den Ländern der ehemaligen Bundesrepublik gegenüber der Bevölkerung im Osten Deutschlands offenbar stark benachteiligt. Dabei kommt nicht nur die enorme Überdosierung mit Antibiotika und anderen Medikamenten im Westen zum Ausdruck, sondern auch die Immunisierung im Vorschulalter im Osten, wo Jahrzehnte lang fast alle Kinder im Kindergarten und weit über die Hälfte aller Kinder in Kinderkrippen zwar einer erhöhten Ansteckung ausgesetzt waren, dadurch aber auch ein "geschultes" Immunsystem erhielten. Dagegen hat nach 1990 die Egalisierung der Lebensverhältnisse in Deutschland zu einem Anwachsen der von Allergien Betroffenen im Osten auf etwa das 10fache geführt.

Die häufigsten Beschwerden der Deutschen nach Ost und West

HÖLL-STÜBER; DACHROTH 1997, S. 61

Es ist allerdings einzuschränken, dass darin auch ein ganz allgemeiner Differenzen von städtischer und ländlicher Lebensweise enthalten ist. So zeigte RIEDLER (2000, 194 ff.) in einer Untersuchung von österreichischen Kindern im Alter zwischen 8 und 10 Jahren ebenfalls signifikante Unterschiede bei allergischen Erkrankungen, wobei die Kinder aus der Stadt erhebliche Überempfindlichkeiten gegenüber Stoffen aus der alltäglichen Umwelt zeigten, die für Kinder vom Lande überhaupt keine Rolle spielen. Unterschiede zuwischen Stadt und Land gibt es außerdem bei konkreten Krankheiten (bei Heuschnupfen 10,3% : 3,1%; bei Asthma 3,9% : 1,1%). Vermutet wird, dass Kinder vom Lande, die zudem Kontakt mit der Tierproduktion in der Landwirtschaft haben, wo ihr Organismus intensiver den mikrobiellen Antigenen in Ställen und Bauernhäusern ausgesetzt ist, eine Immuntoleranz entwickelt, was zur langfristigen Stimulation jener Zellen führt, die für die Immunabwehr zuständig sind (ebenda, S. 197)
Gie Bedeutung dieser Kenntnisse ergibt sich allein aus der Häufigkeit dieser Erkrankungen: Jährlich wird bei über 150 Millionen Menschen auf der Welt Asthma neu diagnostiziert. Diese Krankheit zählt zu jenen, die sich momentan am schnellsten ausbreiten, denn die Zahl der Asthma-Kranken verdoppelt sich alle zehn Jahre. Obgleich Asthma in den entwickelten Industriestaaten heute kaum noch zum Tode führt, dürfte seine prädisponierende Wirkung für tödliche Erkrankungen kaum zu leugnen sein.

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