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Die bereits beschriebene Bedeutung der Religionen für die Bevölkerungsgeographie reduziert sich hinsichtlich der Fertilität weniger auf allgemeine religiöse Forderungen oder Gebote, denn seitens der konkreten Inhalte sowie der Regeln zur Umsetzung dieser Inhalte sind alle Religionen - wenn auch unterschiedlich stark - pronatalistisch ausgerichtet. Im Kern geht es also eher um Unterschiede in Abhängigkeit vom Grad der Religiosität einer Bevölkerung. Die demographische Effektivität einer Religion wird also nicht nur von ihrer Strenge oder Toleranz bestimmt, sondern auch von der Konsequenz, mit welcher das einzelne Mitglied einer Glaubensgemeinschaft deren entsprechende Regeln umsetzt bzw. umsetzen kann.
Im engeren Sinne - und da setzen die meisten Religionen an - geht es aber vielfach "lediglich" um die Stellung zur Sexualität. Dabei zeigt ein kurzer Aufriss der Geschichte alter Völker und der Religionen bis heute, dass die von religiösen Absichten beeinflussten Meinungen und Lebensweisen von Verachtung der Sexualität auf der einen und Vergötzung derselben Sexualität auf der anderen Seite reichen (DENZLER 1997, S. 20). Bei dieser Breite des Spektrums ist es nicht verwunderlich, dass auch die Wirkungen der einzelnen Religionen auf die Fertilität nicht nur direkt und unmittelbar, sondern größtenteils sogar vermittelt erfolgen. Eine dieser Vermittlungen ist die im Kontext der jeweiligen religiösen Moral stehende Sexualmoral. Sie kann weit über den religiösen Zusammenhang hinaus die Befindlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse beeinflussen. Der scheinbare Widerspruch, dass dabei in einigen Religionen detaillierte Vorschriften zum Sexualverhalten vermittelt werden, die u. a. einen erstaunlichen Kenntnisstand über die Biologie des Menschen beweisen, dass andererseits aber die Sexualität als Thema oftmals tabuisiert wird, wodurch insbesondere Aufklärung zumindest teilweise behindert wird, ist hier nur anzumerken.
Mitunter ist die Beziehungen zwischen Religion und Fertilität allerdings eindeutig, wenn z. B. die einen keine Maßnahmen zur Familienplanung erlauben, während andere liberaleren Grundsätzen folgen. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn verschiedene Religionsgemeinschaften unter den selben sozialökonomischen Rahmenbedingungen und den selben weltlichen Gesetzen formal die gleichen Möglichkeiten zur Familienplanung besitzen, sich in der Praxis dennoch durch signifikant verschiedene Fruchtbarkeiten unterschieden. So dürften die Unterschiede in der Fertilität von Katholiken, Calvinisten, Reformierten und Konfessionslosen in den Niederlanden eindeutig auf unterschiedliche Einstellungen zur Geburtenkontrolle zurückzuführen sein. (VAN POPPEL 1985, zit. bei RINSCHEDE 1999, S. 128)
Ein prägnantes Beispiel für eine eindeutig mit religiösen Geboten und strenger Umsetzung verbundene hohe Fruchtbarkeit finden wir bei den Old Order Amish in Pennsylvania. Für diese Gruppe sind nicht nur frühe Eheschließungen (bis zum 20. Lebensjahr über zwei Drittel und bis zum 24. Lebensjahr über 92 % aller Frauen; bis zum 24. Lebensjahr fast 82 % und bis zum 29. Lebensjahr über 94 % der Männer; VOSSEN 1984, S. 147) und das Verbot jeglicher Geburtenkontrolle charakteristisch, sondern auch eine stark religiöse Motivation im Hinblick auf das Sexualverhalten, das auf entsprechenden Interpretationen alttestamentarischer Quellen aufbaut.
Daraus resultiert eine hohe mittlere Kinderzahl: Sie lag bei den über 40jährigen amischen Frauen in den 1980er Jahren bei 7,0; ein Zehntel von ihnen hatte sogar mehr als 10 Kinder, denn sie sind bis über das 40. Lebensjahr hinaus fruchtbar. Die durchschnittliche Geburtenrate von 38,7 o/oo erscheint unter diesen Bedingungen relativ moderat. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die amische Bevölkerung ein außerordentlich geringes Durchschnittsalter besitzt: 48 % der Bevölkerung sind jünger als 15 Jahre; auch der Medianwert der Alterspyramide liegt bei 15 - Werte, die sonst nur von wenigen Entwicklungsländern erreicht werden. (ebenda, S. 144 ff.)
Vergleichende Altersgliederung der Old Order Amish mit der Gesamtbevölkerung Lancaster Countys in Pennsylvania um 1990
nach VOSSEN 1994, S. 143
Nicht ganz so stark ausgeprägt, jedoch immer noch signifikant hoch fällt die Fertilität der Latter-Day Saints (Mormonen) auf. Auch die typische Mormonen-Familie ist verhältnismäßig jung; 1977 lag das Medianalter bei 24 Jahren. Das korreliert mit einer relativ hohen Geburtenrate von 31,7 o/oo, die damit doppelt so hoch ist wie die des nationalen Durchschnitts der USA von 15,4 o/oo. (RINSCHEDE 1999, S. 129)
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