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Natalität - 10
 
 

Vielfach in der Literatur bearbeitet wurde die auf den ersten Blick eindeutige Beziehung zwischen der Fruchtbarkeit und dem Islam, da die Bevölkerung islamischer Staaten weltweit die höchsten Wachstumsraten hat. Die Geburtenrate dieser Länder ist etwa ein Viertel höher als in anderen Entwicklungsländern und etwa dreimal so hoch wie in traditionell christlich geprägten Industriestaaten. Das ist keineswegs Ausdruck struktureller Effekte der Altersgliederung, sondern widerspiegelt eine signifikant höhere Anzahl der Kinder pro Frau. (ebenda, S. 131)
In der Literatur wird mehrfach auf Mechanismen des Islam verwiesen, welche die pronatalistische Orientierung offenbar effektiver umsetzen als die anderer Religionen, wie z. B. die immer noch mögliche Polygamie sowie die Ablehnung zölibatärer Lebensstile (vgl. HÖHN 1987; BÄHR, JENTSCH, KULS 1992). Dazu tragen im wesentlichen auch die weitgehende Identität weltlicher und religiöser Positionen bei, die sich in Heiratsmustern, der Familienbildung sowie der patriarchalischen Organisation der Familie ausdrückt und somit letztlich Einfluss auf die Geburtenhäufigkeit hat. Dennoch dürften auch in der islamischen Welt in erster Linie sozialökonomische Faktoren und erst in zweiter Linie religiöse Einstellungen bestimmend sein (RINSCHEDE 1999, S. 132), wobei weniger auf die sozialökonomischen Wurzeln religiöser Regeln als auf die sozialökonomischen Bedingungen ihrer Umsetzungen abgestellt wird. Ein treffendes Beispiel dafür ist mit den radikalen Veränderungen in Mittelasien gegeben . Zur Zeit der Sowjetunion gab es hier im Unterschied zu den traditionell eher christlich geprägten Sowjetrepubliken eine um das vielfach höhere Geburtenrate. Sie liegt heute, nach dem Übergang zur Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, zwar auch noch deutlich höher als in den anderen GUS-Ländern, doch zeigt z. B. die Entwicklung in Kasachstan eine eindeutige Beziehung der Fertilität zu den gesellschaftlichen Veränderungen: Die Geburtenrate fiel von 1986 zu 1999 von 25,5 o/oo auf 14,8 o/oo, wobei es deutliche Unterschiede zwischen den Städten (8,7 o/oo) und den ländlichen Gebieten (16,6 o/oo) gibt (LENK 2001, S. ).
Eine Besonderheit religiöser Einflüsse auf die Fertilität geht von der Beachtung temporärer Erscheinungen im Religionskalender aus. Das wird von den Geburtenausfällen in Japan im Jahre 1966 unterstrichen. Sie betrugen im Verhältnis zu den Jahren zuvor und danach etwa 25 %. Die Begründung liegt im chinesischen Mondkalender, der auch in den traditionellen Religionen Koreas und eben in Japan eine Rolle spielt. Das Jahr 1966 steht in jener Überlieferung unter dem Zeichen des Feuerpferdes, was auf Mädchen, die in dieser Zeit geboren werden, negative Eigenschaften übertragen soll. Dies könnte zu vorgezogenen oder hinausgeschobenen Geburten bzw. zu statistischen Effekten durch verzögerte Geburtenanmeldungen geführt haben (RINSCHEDE 1999, S. 132).
Auch in stärker säkularisierten Gesellschaften haben Religionen durchaus bemerkenswerte Einflüsse auf die Fruchtbarkeit. Insbesondere die juristische Rahmensetzung im Hinblick auf Möglichkeiten der Familienplanung oder Geburtenverringerung werden vielfach mit moralischen Begründungen aus religiösem Kontext untersetzt, wie die langen Diskussionen um das Abortusverbot in Deutschland beweisen. Es sollte allerdings zu denken geben, dass sich die deutsche Regelung (§ 218) im Strafgesetzbuch befindet, und dass die scharfe Form der Formulierung, die bis Anfang der 1990er Jahre in der BRD gültig war, aus den 1930er Jahren stammte!
Eine vom Mechanismus her ähnliche Wirkung auf die Geburtlichkeit wie Religionen können auch ideologische Begründungen der Gesetzgebung haben. Auf diesem Wege führten die z. T. weit vor 1990 in den Ländern des Ostblocks geschaffenen Bedingungen zu vergleichsweise hohen Geburtenraten. In diesem Fall waren es allerdings nicht Reglementierungen des Sexualverhaltens, sondern die sozialökonomische und juristische Unabhängigkeit der Frauen bei gleichzeitiger sozialpolitischer Förderung, die unabhängig vom Familienstand zur Vorverlegung und höherer Anzahl von Geburten führten (weitere Ausführungen siehe Kapitel Bevölkerungspolitik). Bei relativ gleichen existenziellen Bedingungen führte das sogar zu einer gewissen Uniformität der Reproduktionsbiographie, wie ein Beispiel der altersspezifischen Fruchtbarkeit in den ländlichsten Gebieten Ostdeutschlands zur DDR-Zeit zeigte , wo bei relativ hoher Fruchtbarkeit die durchschnittliche zeitliche Platzierung der ersten, zweiten und - etwas abgeschwächt - dritten Niederkunft zu erkennen ist.

Altersspezifische Fruchtbarkeit in Deutschland 1989 nach DDR und BRD sowie im Kreis Strasburg im Mittel der Jahre 1976-1980

nach WEISS 1996, S. 83, ergänzt

Alle Aspekte von Fruchtbarkeit, Geburtlichkeit etc. werden von außerordentlich vielen Einflüssen begleitet, die zwar nicht in jedem Falle eine direkte Beziehung zur Anzahl der Kinder und zum Zeitpunkt einer Geburt in der Biographie einer Frau haben, aber dennoch nicht aus dem Kontext entlassen werden dürfen. Insbesondere in verschiedenen Entwicklungsländern wird die hohe Fertilität durch eine Besonderheit begleitet: Die weibliche Genitalverstümmlung . Sie ist nicht nur ein extremes Beispiel für die Missachtung der Frau, sondern zugleich ein besonderer Indikator für die reproduktive Gesundheit.
Vielleicht wird die Fertilität ausgewogener Gesellschaften in Zukunft dem Anspruch genügen müssen, dass es allen Frauen dieser Erde möglich sein muss, freie und selbstbestimmte Reproduktion in ökonomischer Unabhängigkeit, sozialer Geborgenheit und ökologischer Verantwortung zu realisieren. Eine solche Gesellschaft wäre nicht nur schlechthin frei von sexueller Gewalt jeder Art, sondern sie wäre auch sexuell emanzipiert. Und sie wäre ein guter Platz für Kinder, die von Anbeginn Wunschkinder sind!

 
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