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Gliederung der Bevölkerung nach demographischen Merkmalen - 10
 
 

Unabhängig von der räumlichen Differenzierung gibt es allerdings für Deutschland Gesamtwerte, welche die Zunahme der Einpersonenhaushalte im 20. Jahrhundert eindrucksvoll illustrieren. So lag der Wert vor dem Ersten Weltkrieg (1910) bei nur 7,3 %, vor dem Zweiten Weltkrieg (1939) noch bei 9,8 %, stieg durch den Zweiten Weltkrieg insbesondere durch Verwitwung auf 19,4 % (1950, BRD), um dann bis 1989 fast linear auf 35,3 % zu steigen (PEUCKERT 1991, S. 39).
Die Singlegesellschaft hat viele Ursachen. Sie entsteht einerseits aus der ökonomischen Befreiung der Frau aus elterlich-familiärer bzw. ehelicher Abhängigkeit, andererseits aus der von Zeugungsangst befreiten Jugend, welche - in jeder Generation von neuem - eigene Bindungsnormen entwickelt und diese ins Erwachsenendasein mitnimmt. In keinem Fall ist die "Verweigerung" des Ehestandes eine Abkehr von der Familie. Oftmals ist sogar das Gegenteil das Motiv, wobei Ehe und Familie als streng unterschiedliche Kategorien des Zusammenlebens verstanden werden. Sicher ist es überzogen, den Beteiligten zu unterstellen, dass sie die Ehe nur als institutionalisierte und die Familie als individualisierte Brutpflegegemeinschaft biologischen Ursprungs (MOHRIG 1980, S. 116) ansehen. Hingegen entstand die Ehe als Institution durch die juristische Definition der Familie als Ehe zum Zweck der Anerkennung unbestrittener Vaterschaft und mit speziellem Bezug auf das Erbrecht in einer historischen Phase des Patriarchats (nach ENGELS 1884 / 1962, S. 64). Mit dem zeitlichen Abstand zur historischen Notwendigkeit dieser Formierung der Familie zur Ehe kann diese also durchaus als überlebt verstanden werden, was sich in den vielfältigen Auflösungsprozessen der klassischen Formen des Zusammenlebens in den Industriestaaten insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt.
Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass allein aus der biographischen Entwicklung eines Menschen heraus verschiedene Formen des Zusammenlebens eingegangen werden, die u. a. als Lebenszyklus-Phasen bezeichnet werden können


                                 Lebenszyklus-Phasen

KEMPER 1985, S. 191, ergänzt

Der eher "klassische" Ablauf der individuellen Familienentwicklung wird in der modernen Gesellschaft durch Komponenten verschiedener Kategorien diversifiziert: durch demographische (z. B. höhere Lebenserwartung), ökonomische (insbesondere Erwerbstätigkeit der Frauen) und juristische (Reversibilität von Bindungsentscheidungen). Die sich daraus ableitenden Bindungsformen werden derzeit mit unterschiedlichen Begriffen beschrieben, welche vom Wort her oftmals selbsterklärend sind, so dass einige hier ohne nähere Definition angeführt sind: Fortsetzungsehe, Stieffamilie, Adoptivfamilie, Commuter-Ehe/-Familie ( vgl. PEUCKERT 1991). Diese verschiedenen Formen sind allerdings weniger als Auflösung der Familie zu verstehen, sondern eher als Anpassung an die gesellschaftliche Entwicklung.
Ein völlig anderes Problem ist die diesbezüglich konservative Orientierung der Statistik, welche für diese neuen Formen des Zusammenlebens oftmals nicht die richtigen Definitionen bereithält. Darin widerspiegelt sich eine deutliche Zurückhaltung der Politik, die Entwicklungen der Realität mit entsprechenden Maßnahmen zu begleiten. Realität ist z. B., dass es in Deutschland über zwei Millionen Alleinerziehende mit über zweieinhalb Millionen Kindern gibt. Im Westen und Süden Deutschlands wird jedes siebente und im Osten fast jedes zweite Kind von einer Single-Mutter geboren wird.


Es ist schon bemerkenswert, dass in der alten Bundesrepublik Deutschland noch bis 1969 der Vater eines nichtehelichen Kindes als nicht mit ihm verwandt galt, so dass ihm für den "außerehelichen Fehltritt" keinerlei Nachteile entstanden. Büßen mussten die Frauen für ihr (!) unsittliches Verhalten; sie standen deshalb moralisch am Rand und ökonomisch zumeist auf der untersten Stufe der Gesellschaft.
Trotz aller Fortschritte in der Gesetzgebung bleibt bis heute ein erheblicher Mangel an sexualspezifischer Emanzipation bestehen, denn nach wie vor sind es überproportional die Frauen, welche in vergleichbaren Lebenssituationen ökonomisch benachteiligt sind. So dominieren Frauen unter den alleinstehenden "Empfängern laufender Hilfe zum Lebensunterhalt" mit Kindern unter 18 Jahre überall in Deutschland.
Aus geographischer Perspektive sind hinsichtlich der Familienformen vor allem räumliche Bezüge von Bedeutung. Dabei ist eine eindeutige Beziehung der "konventionellen" Familie zur agraren Gesellschaft und zum ländlichen Raum gegeben, wogegen quasi komplementär die modernen Variationen Ausdruck urbanen Lebens mit hochgradiger Mobilität sind.
Derzeit existieren im Wesentlichen zwei historisch-soziologische Erklärungsmodelle für die Veränderung des Familienlebens im 20. Jahrhundert (vgl. SIEDLER 1997, S. 278 f.):
Auf der Grundlage der These vom säkularen Prozess der Individualisierung beschreibt die Modernisierungstheorie u. a. die fortschreitende Pluralisierung der Gesellschaft, wobei universalgültige Normen für das Zusammenleben an Bedeutung verlieren. Die familiären Handlungsfelder vervielfältigen sich, und die spezifischen Binnenstrukturen der Familie (Machtverteilung, Rollen, Kapitalsorten etc.) ordnen sich neu. Zugleich wächst mit erhöhter Mobilität immer weiterer Teile der Bevölkerung (durch Tourismus, Arbeitsmigration usw.) die Akzeptanz des kulturell bzw. traditionell Anderen, und es gewinnen andere Formen der Familie an Legitimität und praktischer Realisierbarkeit.
Zum anderen gibt es den Erklärungsansatz der Entinstitutionalisierung von Ehe und Familie mit zwei verschiedenen Denkrichtungen: Erstens beschreibt die neoevolutionäre Differenzierungstheorie die sukzessive Abgabe familiärer Angelegenheiten (Erziehung, Altenpflege) an soziale Einrichtungen des Staates, der deren Übernahme als gesellschaftliche Verpflichtung versteht, womit die Organisation der Familie als Ehe z. T. überflüssig wird. Der zweite Ansatz ist emanzipatorischer Natur. Er setzt auf die individuelle Überwindung des Patriarchats sowie auf die Stärkung der Familie unter Abbau jener gesellschaftlicher Regulationen, in welchen die Ehe als Institution de facto über die Familie gestellt wird.
Allerdings sollte die heute vielfach praktizierte Ablehnung der Ehe nicht als Ablehnung der gesellschaftlichen Bedingungen interpretiert werden. Dem steht zumindest gegenüber, dass ausgerechnet durch jene Personen, denen aufgrund ihrer Neigung zu einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft in den meisten Staaten eine Ehe bzw. die Anerkennung einer eheähnliche Verbindung verweigert wird, genau diese angestrebt wird. Nach diesbezüglich liberaleren Regelungen z. B. in den Niederlanden und Dänemark ist es seit dem 1. August 2001 auch in den meisten Bundesländern in Deutschland möglich, eine sog. "eingetragene Lebenspartnerschaft" einzugehen.
 
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