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Ausgewählte Migrationen in der Neuzeit - Osteuropa wird mobil - 1
 
 

Es kann erwartet werden, dass sich bei Erweiterung der EU nach Osten mit Zunahme der Distanz der ländlichen Entleerungsgebiete zu den Wachstumsregionen diese demographischen Verwerfungen verstärken werden.

Mecklenburg-Vorpommern: Migrationssaldo nach Alter und Geschlecht 1999

Daten: Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern.

Seitens der demographisch-soziologischen Disproportionen ist die überproportionale Abwanderung von jungen Frauen zwar statistisch relativ leicht zu dokumentieren, aber durch die Öffentlichkeit und insbesondere die Politik verhältnismäßig spät zur Kenntnis genommen worden. Das ist durchaus verständlich, denn spätestens seit der Industrialisierung sind es fast überall auf der Erde vorrangig die jungen Männer, die zeitweilig oder auch für länger zur Arbeit in die wirtschaftlichen Zentren abwandern. In Griechenland gibt es aus diesem Grunde viele Inseln fast ohne Männer; selbst in Indien, wo der natürliche Überschuss männlicher Kinder im ländlichen Raum (z. B. in Kerala) durch Formen des Infantizits seit Jahrzehnten künstlich überhöht wird, gibt es in den Altersgruppen 15 bis 30 Jahre erhebliche Frauenüberschüsse , weil sich die Männer zur Arbeit in den großen Zentren der industrialisierteren Provinzen aufhalten.
Auf die Frage nach den Ursachen der außerordentlich hohen Abwanderungen junger Frauen aus dem gesamten Osten Deutschlands gibt die 13. Shell Jugendstudie eine spezifische Antwort, indem festgestellt wird, dass die "... jungen Frauen im Osten bereit sind, sich den beruflichen Herausforderungen zu stellen, sofern man ihnen dazu nur eine Chance gibt" (S. 293). Das zeigen insbesondere die Antworten auf die Frage nach der Mobilitätsbereitschaft im Vergleich von Ost- und Westdeutschland .

Migrationsbereitschaft nach Landesteil und Geschlecht (Angaben in Prozent)

Quelle: Deutsche Shell, S. 293.

Von den Autoren der Studie wird folgende Interpretation angeboten: "Ihre ungünstigen Lebensbedingungen und biographischen Belastungen kompensieren die Mädchen und jungen Frauen im Osten offenbar durch einen strikten Verzicht auf die weibliche "Tugend" [Hervorhebung im Original] des Zurückstehens hinter den Interessen anderer. Dieses Gleichziehen bei der Verwirklichung der eigenen Interessen ist im Westen noch nicht erreicht, hier ist die Rücksichtnahme auf andere bei den Mädchen klar stärker ausgeprägt als bei den Jungen" (S. 293). Der Hinweis auf die Qualität der ostdeutschen Lebensbedingungen sowie der biographischen (!) Belastungen (Bezug zum Geburtsort im Osten?) ist nicht nur eine recht gute Kennzeichnung, sondern zugleich der Kern der Ursache der Abwanderung, wenn der Ansatz der "regionalen Tragfähigkeit" zugrunde gelegt wird.
Leider versäumen die Autoren, den Mädchen und jungen Frauen im Osten das Recht auf Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit in einem Beruf als Selbstverständlichkeit zuzugestehen, bei der zugleich die individuelle ökonomische Unabhängigkeit gesichert werden kann. Im Gegenteil lässt sich nämlich das "Zurückstehen hinter den Interessen anderer" - und da gibt es eben nur die Männer ! - viel eher als "freiwillige" Unterordnung unter patriarchalische Gesellschaftsstrukturen bei mangelnder Bereitschaft zur Emanzipation interpretieren. Unter diesem Blickwinkel dürfte die Selbstbestimmung der Frau bis 1990 im Osten Deutschlands mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest in einigen neuralgischen Bereichen stärker ausgeprägt gewesen sein, als in der alten Bundesrepublik Deutschland. Erfahrungswerte mit der vollständigen Entscheidungsfreiheit der Frauen über Anzahl und Zeitpunkt der Geburten sowie der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf gehören zu den Determinanten jener Haltung, die bislang im Osten von den Müttern an ihre Töchter weitergereicht wurden.
In wieweit die demographisch-soziologischen Disproportionen typisch sind für die ländlichen Räume in ganz Osteuropa und wieweit die jeweiligen Ausprägungen der einzelnen Teilprozesse diese Strukturen modifizieren bedarf noch gezielter Untersuchung. Es besteht allerdings der dringende Verdacht, dass sich bei egalisierter Rechtslage, wie sie sich mit der Erweiterung der Europäischen Union in den Osten einstellen dürfte, mit zunehmender Distanz zu den Wachstumszentren die Disproportionen verstärken werden. Dabei kommt es nicht nur zu einem Übergreifen der Problemlagen des ländlichsten Raumes auf die jeweiligen Zentren, sondern zu einem allgemeinen Schrumpfungsprozess in vielen Bereichen der Volkswirtschaft, dessen demographische Seite sich bereits mit Sterbefallüberschüssen durch Geburtenausfälle ankündigt.

 
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