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Ausgewählte Migrationen in der Neuzeit - Osteuropa wird mobil - 1
 
 

Das Ende des Kalten Krieges brachte im östlichen Mittel- und Osteuropa tiefgreifende politische, wirtschaftliche und soziale Veränderungen, die im wesentlichen überall die gleichen demographischen Konsequenzen hatten. Sie lassen sich verkürzt wie folgt kennzeichnen: Radikale Verringerung der Geburtenanzahlen und totale Neuordnung der Wanderungsströme in kürzester Zeit.
Bevölkerungsgeographisch interessant ist dabei einerseits der Ausbruch dieser Entwicklung aus dem gewohnten Schema der demographischen Transition (WEISS 2000b), andererseits die Herausbildung von für diese Region völlig neuen Migrationsmustern. Der Wegfall politischer Zwänge wirkt sich wie ein "Dammbruch" aus, der einige der traditionellen Wanderungsbeziehungen intensivierte, andere schlagartig umkehrte. In konzentrierter Form wird das anhand der Entwicklung in Mecklenburg-Vorpommern deutlich. In dieser wohl ländlichste Region Deutschlands mit nur geringen Verdichtungsansätzen dominiert zwar die Abwanderung, doch finden seit 1990 auch enorme Stadt-Umland-Wanderungen statt, welche in den Jahrzehnten zuvor unterdrückt wurden. Bis auf die reine Umverteilung hat dieser Vorgang wenig mit der westlichen, viel organischeren Suburbanisierung gemein, denn er läuft meistens ohne strukturelle Entwicklung des Umlandes ab. Besonders interessant sind zwei qualitative Momente. Die Aufsiedlung im Stadt-Umland-Bereich stellt sich als intensive Segregation dar - in dieser Form hier zuvor undenkbar. Dabei war die erste Phase etwa von 1990 bis 1998 dadurch gekennzeichnet, dass sozial besser gestellte Personen, zumeist Doppelverdienerhaushalte, aus den Städten in das nahe Umland abwanderten. Seitdem ist zunehmend auch eine Abwanderung von sozial Schwächeren aus dem ländlichen Umland in die Zentren zu beobachten, die wahrscheinlich von ökonomischen Gründen und der geringeren Sozialkontrolle in der Stadt getragen ist. Auch die landesübergreifende Abwanderung vollzieht sich selektiv, allerdings als komplexer Siebungsprozess, der zu erheblichen demographisch-soziologischen Disproportionen führt .

Wirkungsgefüge permanent selektiver Migration aus ländlichen Abwanderungsgebieten

Quelle: WEISS, HILBIG 1998, S. 797

Migration ist immer selektiv, selten aber so langanhaltend und inhaltlich gleichförmig, wie in den ländlichen und zugleich landwirtschaftlichen Gebieten des Ostens. Ihr Ergebnis ist allerdings nicht einfach als "Erbe der DDR" abzubuchen, sondern sie setzt sich teilweise unvermindert fort, was vielerorts, ja bereits regional zu einer extremen Schieflage in der Alters-, der Sexual- und der Qualifikationsstruktur der Bevölkerung der Wegzugsgemeinden führte. Vor 1990 waren die demographisch-soziologischen Disproportionen vorrangig auf die von der Landwirtschaft geprägten, ländlichen Gemeinden beschränkt. Die damalige Bevorteilung der Städte, vorrangig durch den staatlichen Wohnungsbau sowie die Kontingentierung von Wohnungen über Kommunen und Betriebe, führte zu einer migrationellen Protegierung dieser Standorte. Der Beitritt zur BRD brachte neben anderen Freiheiten insbesondere die Aufhebung der Wanderungsbeschränkungen. Prompt verloren die Zentren ihre vorherige Bevorzugung, und ihre Wanderungseffektivität glich sich sehr schnell dem umliegenden ländlichsten Raum an. Am Beispiel der größten Stadt im Nordosten Deutschlands, der Hansestadt Rostock, deren Einwohnerzahl vor 1989 bei rund 250 000 und deren Männerüberschuss im demographisch aktivsten Alter (20 bis unter 40 Jahre) bei 3,7 % lag, wird das besonders deutlich: Im Jahre 1996, mittlerweile auf etwa 200 000 Einwohner geschrumpft, überschritt sie den Schwellenwert von 10 % Männerüberschuss (gleiche Altersgruppe). Aktuell (2001) strebt der Wert sogar gegen 15 %. Diese strukturelle Verschiebung ist fast ausschließlich Resultat der überregionalen Migration und hat kaum eine Beziehung zur intensiven Stadt-Umland-Wanderung!

 
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