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Ausgewählte Migrationen in der Neuzeit - Flüchtlinge und Heimatvertriebene in und nach den Weltkriegen - 3
 
 

Die Angabe der Zahlen über die aus ihren Heimatgebieten vertriebenen bzw. geflüchteten Deutschen erfolgt in der Bundesrepublik Deutschland regierungsamtlich und steht seit dem Tätigkeitsbericht der Bundesregierung von 1962 fest. Danach wurden aus den Ostgebieten des Deutschen Reiches 6 944 000, aus der Tschechoslowakei 2 921 000 und aus den übrigen Ländern, insbesondere Ost- und Südosteuropa 1 865 000, zusammen 11 730 000 Menschen vertrieben. Hinzu kommen noch 2 111 000 Menschen, die statistisch als "Vertreibungsverluste" deklariert worden sind und im Wesentlichen auf oder im Zusammenhang mit der Flucht ums Leben gekommen sein dürften. (KNOX, MARSTON 2001, S. 156 f.)
Flucht und Vertreibung waren nicht nur ein Thema für die unmittelbar beteiligten Personen, sondern auch für die Zielgebiete der Wanderungen, die in jenen Zeiten vielfach bis über ihre Tragfähigkeit hinaus belastet worden sind. So hatte sich die Einwohnerzahl insbesondere im ländlichen Raum des verbliebenen Reichsgebietes nach dem Zweiten Weltkrieg durch Flüchtlinge, Umsiedler und Heimatvertriebene, Ausgebombte sowie Beteiligte und dann nicht Zurückgekehrte der Kinderlandverschickung u. a. stark erhöht. In einigen Gebieten hatte sich die Bevölkerung sogar trotz der Kriegsverluste sowie der verminderten Geburtenzahlen in vielen Gemeinden mehr als verdoppelt. Die ländlichen Räume waren als Zielgebiete der Flüchtlinge und Vertriebenen deswegen bevorzugt, weil zum einen die meisten wichtigen Städte dem Bombenterror der westlichen Alliierten ausgesetzt gewesen waren, die ländlichen Gebiete aber deutlich geringere Schäden trug, was insbesondere für die Unterbringung in heilen Wohnungen wichtig war. Zum anderen gab es in ländlichen Gebieten größere Chancen der Ernährung.
Bezogen auf das gesamte Bundesland hatte sich beispielsweise die Einwohnerzahl in Mecklenburg und Vorpommern gegenüber 1939 ohne Berücksichtigung kriegsbedingter Verluste sogar um 76 % vergrößert, so dass die autochtone (einheimische) Bevölkerung gegenüber der allochtonen ("fremdstämmigen") Bevölkerung in einigen Kreisen in der Minderheit war . Auch in Brandenburg, das zudem den Großteil der ausgebombten Berliner aufnahm, gab es eine starke Zunahme der Bevölkerung in den ländlichen Gebieten (Dippel 2001, S. 28 ff). Diese Konzentrationen in Ostelbien waren mit ein Grund für die tiefgreifenden sozialen Veränderungen in der Landwirtschaft dieser Region, denn die Bewirtschaftung der Felder wäre ohne die Bodenreform von 1945/46 kaum zu bewältigen gewesen. Dabei wurden 2,25 Mio. ha landwirtschaftlicher Großgrundbesitz zumeist feudalistischen Ursprungs enteignet und auf über 210 000 Neubauernstellen mit durchschnittlich 8,0 ha/Betrieb verteilt (WEISS 1996, S. 122; korrigiert).

Allochtone Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern 1946 nach Kreisen

Die offizielle Statistik von 1946 benutzte für alle Personen, die in der Zeit von 1939 bis 1946 als Flüchtlinge, Umsiedler und Heimatvertriebene in das Land kamen sowie für Ausgebombte, fremdstämmige Heimkehrer, Teilnehmer der Kinderlandverschickung u. a., welche sich nach kriegsbedingten Bewegungen noch im Land befanden, ausschließlich den Begriff Umsiedler.
Quelle: WEISS 1996, S. 75

Die Unterbringung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen war die zunächst wichtigste Aufgabe in ganz Deutschland. Sie wurde in allen Besatzungszonen anfänglich mittels einer rigiden Wohnungszwangswirtschaft bewältigt. Erst nach der Gründung der Bundesrepublik trat im Westen eine staatliche Wohnungsbauförderung als Lösungsansatz hinzu. Dabei blieb die Problematik nicht auf die Unterbringung der Flüchtlinge und Vertriebenen beschränkt. In der im wesentlichen als erfolgreich zu bezeichnenden Lösung des Flüchtlingsproblems hatte seine Anerkennung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe eine besondere Bedeutung. Dass der Zugang der Flüchtlinge zur Arbeit als eine wichtige soziale Frage behandelt wurde, dass zugleich das "Wirtschaftswunder" der 50er Jahre an der Lösung dieses Problems beteiligt war, führt vielfach zur Argumentation, dass der ökonomische Aufschwung ohne das Arbeitskräftereservoir der Vertriebenen wohl kaum die Dimensionen erreicht hätte, die er in den Boomjahren der frühen Bundesrepublik annahm (FÜHRER 2001, S. 3 ff).
Teilweise völlig anders vollzog sich der Eingliederungsprozess der Flüchtlinge in der wirtschaftlich in vielfacher Hinsicht benachteiligten SBZ beziehungsweise dann in der DDR. Zwar gab es in den Reaktionen auf den Flüchtlingszustrom und in den Initiativen sowohl der Besatzungsmächte als auch der lokalen Organisationen zur Bewältigung der Probleme in den ersten Jahre nach 1945 eine Reihe von Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West, doch wurden die Flüchtlinge und insbesondere die Heimatvertriebenen in ihrer Problematik im Osten zunehmend weniger respektiert. Genauer: Ihnen blieb die Anerkennung als gesellschaftliche Sondergruppe versagt. Das hatte vorrangig mit der Position zu den politischen Verbündeten im Osten zu tun. So ist das Thema Flucht und Vertreibung bis 1989 in der DDR kaum behandelt, vielfach sogar tabuisiert worden. Westliche Wissenschaftler erhielten hingegen kaum Zugang zu den wichtigsten Quellen in der DDR (OLTMER 2001, S. 14 ff). Erst seit Öffnung eines Teils der Archive besteht die Möglichkeit der Aufbereitung dieses Teils der Geschichte.
Trotz der Bedeutung ländlicher Siedlungsräume für die Neuansiedlungen gab es gerade für städtische Bevölkerung mit industriellen Berufen das Bestreben, in einer der Heimat vergleichbaren Umgebung Fuß zu fassen. Viele in den ersten Nachkriegsjahren als provisorisch angenommenen Existenzen wurden bis etwa 1953 wieder aufgegeben, um den Neuanfang zu optimieren. Migrationsgeschichtlich wird diese Zeit als Periode der Korrekturwanderungen bezeichnet. Wie die Flüchtlingsaufnahme in einer stark zerstörten Industriestadt erfolgte, wurde durch GROSSER (2001) exemplarisch am Beispiel von Mannheim erläutert.
Es gibt auch bemerkenswert Konzentrationen von Vertriebenen, die sich in relativ geschlossenen Gemeinschaften eine neue Heimat einrichten konnten. So fanden im Raum Kaufbeuren auf dem Ruinenfeld einer Munitionsfabrik des Zweiten Weltkrieges 18 000 vertriebene deutsche Einwohner aus dem Kreis Gablonz in Nordböhmen einen Neuanfang. Neugablonz hat heute (um 2000) ca. 14 000 Einwohner und ist ein Stadtteil von Kaufbeuren, in dem die alten Traditionen der Gablonzer Glas- und Schmuckindustrie nicht nur schlechthin fortbestehen, sondern der Standort hat sich mit seinen 1 200 Mitarbeitern in 130 Betrieben sogar zum bedeutendsten Modeschmuck-Zentrum der Bundesrepublik Deutschland entwickelt.
Neugablonz ist die einzige Siedlung dieser Größenordnung, die von einer geschlossenen Bevölkerungsgruppe aus den Vertreibungsgebieten gegründet worden ist, und sie ist auch die einzige, die den Namen einer ehemals deutschen Stadt trägt. Traditionen, Lebensart, kulturelle Bindungen, Brauchtum und Mundart der Herkunftsregion blieben so weitgehend erhalten.

 
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