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Ausgewählte Migrationen in der Neuzeit - Flüchtlinge und Heimatvertriebene in und nach den Weltkriegen - 1
 
 

Das 20. Jahrhundert wird vielfach als das "Jahrhundert der Flüchtlinge" bezeichnet. Die bedeutendsten Ereignisse waren diesbezüglich sicherlich die beiden Weltkriege.
Das aktuelle politische Bewusstsein ist hinsichtlich Flucht und Vertreibung weitgehend auf die Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges beschränkt. Dabei wird oft übersehen, dass neben dem entsetzlichen Ergebnis bereits des Ersten Weltkrieges mit nach unterschiedlichen Berechnungen 8,5 bis zu 13 Millionen getöteten und etwa 20 Millionen verwundeten Soldaten am Ende auch ca. 9,5 Millionen Menschen auf der Flucht waren. Sie flohen aus Angst vor politischer Verfolgung in Revolutionen, sie waren politische Verhandlungsmasse bei den Verhandlungen in Versailles sowie Gegenstand der ersten ethnischen Vertreibungen großen Umfangs im 20. Jahrhundert. Letzteres war Resultat des charakteristischen Nationalismus dieses Krieges: In seinem Verlauf und Ergebnis kam es zur Verfolgung von Bevölkerungsgruppen, denen aufgrund ihrer ethnischen Identität eine mangelhafte Loyalität unterstellt wurde. Seit langem schon zählten die Polen in ihren Siedlungsräumen als "Fremde", denn spätestens nach der dritten Teilung Polens gab es keine für Europa sonst weitgehend übliche Identität von Siedlungsraum eines Volkes mit einer dem entsprechenden politischen Struktur. Ab 1795 waren die Polen Bürger von Preußen, Österreich oder Russland. Hinsichtlich der Juden wurde die Haltung zudem durch den in vielen Regionen Europas latenten Antisemitismus überlagert. Völlig neu war insbesondere im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Dynastien der Osmanen, Habsburger und Romanows, dass mit der Herausbildung nationaler Bestrebungen vormals unterdrückter Völker auch die ethnischen Deutschen vom Banat bis an die Wolga Misstrauen auf sich zogen. Diese drei Gruppen wurden aus großen Teilen Osteuropas vertrieben (SASSEN 1996, S. 100 f.).
Zu den tragischen Massenfluchten des Ersten Weltkrieges gehört der berüchtigte Treck von 500 000 serbischen Zivilisten und Soldaten zur Adria nach dem Angriff der Mittelmächte 1915. Etwa 10 % der serbischen Bevölkerung wurden in ungarische und bulgarische Lager getrieben, wo sie häufig zur Zwangsarbeit eingesetzt wurden. Russland begleitete seine Kriegsstrategie der "verbrannten Erde" mit Flucht und Vertreibung, wobei die Deportation der ethnischen Deutschen in versiegelten Viehwaggons nach Sibirien und Zentralasien staatlich organisiert war. Im Dezember 1915 gab es in Russland etwa 2,7 Millionen Flüchtlinge, deren Zahl sich bis Anfang 1916 auf ungefähr 5 Millionen erhöhte. (ebenda) Das Ende des Ersten Weltkrieges wurde mit den Pariser Vorortverträgen besiegelt. Mit dem Versailler Diktat, das Deutschland die alleinige Kriegsschuld zuschrieb, wurden 70 579 km² mit ca. 7,3 Millionen Menschen vom Reich abgetrennt, von denen viele aus wiederum ethnischen Gründen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, insbesondere dann, wenn sie bei der von ihnen verlangten Entscheidung gemäß Artikel 91 des Vertrages von Versailles ihre deutsche Nationalität bestätigten, womit sie für die Deutsche Reichsangehörigkeit optierten .

Optionsurkunde

Der größte Teil dieser Menschen siedelte, in der Hoffnung auf baldige Rückkehr, im verbliebenen Reichgebiet grenznah. Das sollte sich für die weitere Entwicklung insbesondere zu Ende des Zweiten Weltkrieges als besonders tragisch erweisen, denn 1945 hatte Deutschland genau diese Gebiete abzutreten. Zunächst jedoch entstand ein völlig neues Regionalbewusstsein, das sich zwar in unterschiedlichen Formen organisierte, jedoch vom Interesse an Remigration dominiert wurde .

Ehrenmünze der Volksspende für vertriebene Auslanddeutsche (Vorder- und Rückansicht)

Somit waren und sind Flucht und Vertreibung sowie die ständige Suche nach Heimat gerade für die im östlichen Mittel- und Osteuropa lebenden Deutschen ein existentielles Thema, das - zumeist durch die erneute Flucht bzw. Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg - die Menschen in mehreren Millionen Familien seit nunmehr mindestens drei Generationen beschäftigt. Sie sind damit Teil eines europäischen Schicksals, das von vielen Völkern geteilt wird.

 
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