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Ausgewählte Migrationen in der Neuzeit - Ausgewählte planmäßige Be- und Umsiedlungen - 1
 
 

Raumgreifende Besiedlungen in den vorher fast menschenleeren Weiten in den USA (z. B. in Alaska) und in Russland (vorrangig in Sibirien) gehören zu den großen Leistungen der Gestaltung des Kulturraumes im 20. Jahrhundert. Ob diese Umverteilungen durch Pioniergeist oder Abenteurertum, durch heroische Gefühle im "Glauben an den Sieg" oder gegen Geld und Privilegien bewirkt wurden, ob an Erdölleitungen oder an der "Transamerikana", ob an der "Transsibirischen Eisenbahn" oder der "BAM" (Baikal-Amur-Magistrale) - es kamen Tausende Menschen, und viele werden dort auch bleiben. Es ist ihre Heimat geworden.
Solche "inneren Landnahmen" sind früher "innere Kolonisation" genannt worden. Planmäßige Besiedlungen haben zwar eine sehr lange Geschichte, bekamen jedoch mit der Industrialisierung eine neue Qualität. Das Deutsche Reich hatte vor dem Ersten Weltkrieg für solche Vorhaben insbesondere in den östlichsten Provinzen eine spezielle Institution - das Reichskolonialamt in Posen. Das war weltweit eine der ersten Einrichtungen zur planmäßigen, komplexen Raumerschließung, d. h. die Gestaltung des Siedlungsnetzes, der Aufbau der Infrastruktur und die Besiedlung kamen vom Konzept bis zur Organisation der Umsetzung "aus einer Hand".
In Preußen folgte man damit älteren Vorbildern, insbesondere der planmäßigen Erschließung von weiten Gebieten in Hinterpommern, der Neumark und dem Netzedistrikt. In diesem Raum wurden ab 1762 im Auftrag Friedrich II. von Preußen unter Leitung von v. Brenkenhof (1723-1780) Kolonien angelegt, Sümpfe und Moore kultiviert, der Netze-Kanal gebaut und vieles mehr. Die Einbeziehung der in jener Zeit zahlreich nach Preußen eingewanderten Hugenotten mit ihren vielfältigen Kenntnissen und Fähigkeiten, die sie als Handwerker, Manufakturarbeiter und ?unternehmer sowie als Kaufleute und Intellektuelle nach Deutschland mitbrachten, effektivierte diesen Prozess. Damit befand sich die preußische Kolonisierungs- und Besiedlungspolitik des Ostens in der Tradition der Merkantilisten, welche die Vermehrung der produzierenden Kräfte und die Hebung des Handels und der heimischen Produktion in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stellten. Die planmäßig organisierten Ansiedlungen in diesem Sinne gehörten somit zu den ersten moderneren raumrelevanten bevölkerungspolitischen Maßnahmen überhaupt, die in der Literatur zumeist als "merkantilistische Peuplierung" erwähnt werden (MÜLLER-MERTENS et al. 1965).
Zu den bedeutendsten Migrationen der Zivilisationsgeschichte dürfte zweifellos der Weg des jüdischen Volkes gehören, der sich teilweise in einer der spektakulärsten planmäßigen Siedlungsmaßnahmen der neueren Geschichte vollendet. Seit der Wiederherstellung Israels wurden weit über 500 Siedlungen gegründet, insbesondere Kibbuzim und Moshavim, in denen heute etwa 305 000 Menschen leben . Die ersten Siedlungstätigkeiten begannen zwar bereits ab 1880 durch käuflichen Erwerb von Land, aber erst ab 1904 wurden kleine Kollektivsiedlungen (Kwuzot) und erste Kibbuzim errichtet. Die eher bürgerlich orientierten Einwanderer lehnten die vollständige Kollektivierung ab, so dass noch innerhalb der britischen Mandatszeit eine abgeschwächte Form von Kollektivsiedlung entstand, der Moshav. Die Vergleichbarkeit von Kibbuz und Moshav mit den späteren kollektiven Formen der Landwirtschaft in der UdSSR (Sowchos: Staatsgüter; Kolchos: Kollektivgüter) oder der DDR (VEG: Volkseigene Güter; LPG: Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) ist sicher nicht zufällig, denn bei allen diesen Strukturen wurde bzw. wird die Ökonomie von der Ideologie bzw. der Religion und der davon abhängigen Politik dominiert. Ob die israelischen Kollektivsiedlungen sogar Vorbild für die Umgestaltung der Landwirtschaft in der Sowjetunion der 1920er Jahre gewesen ist, dürfte allerdings spekulativ sein. Durch den relativ hohen Anteil jüdischer Intellektueller in der Bolschewiki vor den stalinistischen Deformierungen in den 1930er Jahren ist zumindest eine gewisse geistige Nähe zu vermuten.
Viele Kibbuzim und Moshavim wurden bereits in der Siedlungsperiode vor der Proklamation Israels 1948 als Vorposten und Wehrdörfer gegen befürchtete arabische Angriffe errichtet oder hatten als Grenzsiedlungen zunächst eine Wehrfunktion zu erfüllen, bevor die dann rasche Besiedlung des noch offenen Gebietes erfolgen konnte. Immerhin erfolgten diese Besiedlungen nicht immer streng im Rahmen der ausgehandelten Grenzlinien und z. T. sogar mit "illegalen" Einwanderern (MARESCH 1989, S. 37). Auch zur Sicherung der Waffenstillstandslinie von 1949 wurden Wehrdörfer errichtet, wobei sich der Kibbuz wiederum als die geeignetste Siedlungsform erwies.

Der Kibbuz stellt eine Gemeinschaftssiedlung dar, deren Land vom Staat gepachtet ist. Die gesamte Siedlung ist Kollektivbesitz. Entscheidungen werden in Formen direkter Demokratie (Kibbuzversammlung, Komitees) getroffen, z. B. die Aufnahme neuer (freiwilliger) Mitglieder, Investitionen, Wohnungsverteilung, Stipendien u. a. m. Jedes Mitglied arbeitet nach seinen Fähigkeiten und nach Bedarf, jedoch ohne Bezahlung. Die tägliche Arbeit wird gemeinschaftlich organisiert, einschließlich der Mahlzeiten, Wäsche und auch die Alten- und Krankenpflege. Man wohnt in Familien, jedoch gibt es in vielen Kibbuzim auch Kinderhäuser, in denen die Kinder schlafen und zusammenleben. Je nach Größe gibt es auch weiterführende Schulen.Neben der Landwirtschaft findet auch industrielle Produktion Eingang in die Wirtschaft. Einige Kibbuzim haben sich auf den Tourismus spezialisiert.
Der Moshav ist eine genossenschaftliche Siedlungsform. Jede Familie lebt in einem eigenen Haus auf gepachtetem Grund und Boden, der - im Unterschied zum Kibbuz - auf eigene Rechnung selbständig bearbeitet wird. Die Moshav-Versammlung wählt den Gemeinderat, der über neue Mitglieder und wirtschaftliche Fragen abstimmt. Gewirtschaftet wird oft gemeinsam. Der Maschinenpark, Saatgut und Dünger sowie die Vermarktung der Produkte sind genossenschaftlich organisiert. Räumlich gesehen gleicht der Moshav einer Hufensiedlung

nach: MARESCH 1989, S. 39

Entwicklung der Kibbuzim und Moshavim in Israel

Quelle: MARESCH 1989, S. 39; ergänzt nach Angaben des Generalkonsulats des Staates Israel in Berlin, 2001
 
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