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Ausgewählte Migrationen in der Neuzeit - Andere Formen der räumlichen Bevölkerungsbewegung - 1
 
 

Formen der räumlichen Mobilität, welche die Einwohnerzahl nicht verändern, sind im engeren Sinne kein Gegenstand der Bevölkerungsgeographie. Sie stehen aber mit vielen ihrer Probleme in einem außerordentlich engen Kontakt. Einerseits lassen sie sich hinsichtlich der Raum-Zeit-Ökonomie im wesentlichen nach den theoretischen Grundannahmen für Wanderungen bearbeiten, andererseits sind sie oft die unmittelbare Vorstufe der Migration. Zwei Beispiele sollen genügen:
Pendelwanderungen sind regelmäßige Interaktionen zwischen mindestens zwei Standorten. Die Frequenz ist abhängig vom Inhalt der räumlichen Beziehung und den individuellen Spielräumen der Akteure. Arbeitspendler (Berufspendler) sind zumeist (werk)täglich zwischen dem Wohn- und dem Arbeitsort unterwegs, die sog. Montagearbeiter und Ausbildungspendler haben oft einen Wochenrhythmus (Lehrlinge und Auszubildende) oder einen variabler gegliederten Zeitrahmen (Studenten). Für den Arbeitsort ist der Pendler Einpendler, für den Wohnort ist er Auspendler. In der "klassischen" Definition ist das entscheidende Kriterium nicht die Distanz, sondern die Unterscheidung von Quell- und Zielort als unterschiedliche Gemeinden. Innerhalb einer Gemeinde (z. B. in Berlin von Marzahn nach Wannsee, fast 35 km Luftlinie) kann der Arbeitsweg sehr lang sein, er wäre dennoch kein Pendelweg. Von Berlin-Wannsee auf dem Weg zur Arbeit nach Potsdam-Babelsberg hätte man hingegen u. U. nur wenige Meter zurückzulegen - und wäre Pendler. In der ehemaligen BRD wurde darum bereits bei der Volkszählung 1970 die Definition des Pendelweges auf "Überschreiten der Grenze des Wohngrundstücks" verfeinert (LEIB / MERTINS 1983, S. 133), was aber statistisch und datenschutzrechtlich nicht umsetzbar ist. Einpendler und Auspendler werden auch weiterhin auf ganze Gemeinden berechnet ausgewiesen.
Zwischen Pendelwanderung und Migration gibt es verschiedene Übergänge, deren klare Abgrenzung nicht immer einfach ist. Bei Nomadismus und Almwirtschaft in ihrer ursprünglichen Form ist das offensichtlich. Zunehmend gibt es aber auch Lebensstile in der modernen Gesellschaft, die als Nomadismus aufgefasst werden können. Das Leben in mobilen Wohnungen, z. B. auf einem Schiff oder in einem Truck, wird in Mitteleuropa zwar nur von ausgewählten kleinen Randgruppen praktiziert, aber in den USA ist der Anteil der Bevölkerung, die im Wohnwagen lebt, beachtlich.
Selbst der klassische Nomadismus hat viele Ausprägungen und Übergangsformen. Zumeist liegt es aber nur in der eingeschränkten Perspektive der Sesshaften, nicht zu erkennen, dass die eigene Siedlungsweise, die verabsolutiert wird, ebenso als eine extreme Lebensweise aufgefasst werden kann, wie aus unserer Perspektive der Nomadismus. Die Abgrenzung von Sesshaftigkeit und Nomadismus ist in den ausgeprägten Formen weniger von der Lebensweise selbst abhängig als von der Definition der Areale, in denen die Interaktionen stattfinden, von der Relativierung der Arbeitswege im Hinblick auf Distanzen und von der ökonomischen Effektivität, diese Distanzen täglich oder im Jahresgang zu überwinden. Somit kann Nomadismus auch als ein Lebensstil aufgefasst werden, der lediglich mit den Normen einer kontrollierten Gesellschaft kollidiert.
Unter Beachtung der täglichen Arbeitswege sowie anderer räumlicher Beziehungen, die z. B. in den verdichteten Industrieregionen täglich aus den verschiedensten Gründen wahrgenommen werden, sowie bei Einbeziehung unserer regelmäßigen Flucht aus diesem Leben im Urlaub, ist unser Leben vielleicht eher als "intensiver Nomadismus" aufzufassen, wobei wir den räumlichen Jahresgang der ausgewiesenen Nomaden oft an einem einzigen Tag umsetzen. Unter Einbeziehung der Aufwendungen an Technik und Energie ist zudem unser Lebensstil ökologiefeindlich. Nomadische Siedlungsräume sind nicht nur an das natürliche Dargebot angepasst, sondern Nomaden verbindet die räumliche Bewegung zudem mit ihrer Kultur, die eine andere Raumauffassung der Beteiligten gegenüber Sesshaften zum Ausdruck bringt.
Letztlich sind die Distanzen zu relativieren, denn vielfach haben Nomaden einen Aktionsradius, der den von Großstädten entspricht, in denen aufgrund der vorhandenen Infrastruktur bei den täglichen Wege oftmals größere Distanzen überwunden werden, als die Nomaden im Jahresgang realisieren .

Nomadismus am Beispiel der Herdenwanderungen der Zaghawa im Sudan

Quelle: SICK 1993, S. 171

Tourismus ist in der Geographie als ein eigenes Thema etabliert. Auch hier gibt es zunehmend Beziehungen zur Migration. Immer häufiger wird der ehemalige beliebte Urlaubsort zum Altersruhesitz. Andererseits kann es bei der Entwicklung von Orten zum Standort des Tourismus zu einer derartigen Strukturveränderung kommen, dass bestimmte Personen abgedrängt werden.

 
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