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Demographische Transition - 4
 
 

Mittlerweile gibt es von verschiedener Seite aber auch erhebliche Bedenken gegenüber der unvoreingenommenen bzw. unkritischen Verwendung des Modells der demographischen Transition, denn seit Mitte der 1970er Jahre, vielleicht sogar bereits seit Mitte der 1960er Jahre, hat sich in der Bevölkerungsgeographie hinsichtlich ihres theoretischen Gehalts nicht viel bewegt. Seit dem erfolgt der Zuwachs an regionaldemographischem und bevölkerungsgeographischem Wissen eher quantitativ als qualitativ. Das dürfte insbesondere der Tatsache geschuldet sein, dass der damalige Erkenntnisfortschritt derart fundamental war, dass jede weitere Erkenntnis dahinter verblasst. Zugleich wurde mit der "Demographischen Transition" ein so verständliches und handliches Modell zur Erklärung insbesondere der globalen Bevölkerungsexplosion und der wichtigsten damit verbundenen Momente geschaffen, dass kaum jemand eine Chance hatte, sich ernsthaft grundlegend über die Lücken, Ausnahmen und Grenzen dieses Instrumentes zu äußern und dabei auch noch Gehör zu finden.
Zudem hat in der Praxis eine "ganz normale evolutionäre Entwicklung" z. B. hinsichtlich des Bevölkerungsstandes, der Ausprägung der elementaren demographischen Prozesse und deren Querverbindungen zu den existentiellen Bedingungen stattgefunden. Sie hat zu solchen Veränderungen geführt, dass die theoretischen Kernaussagen aus den Lehrbüchern der 1970er und 1980er Jahre für eine hinreichende Erklärung qualitativ nicht mehr ausreichen. Die notwendigen Zusätze und Interpretationen sind unter Wahrung des Anspruches der Wissenschaftlichkeit heute umfangreicher, als die Anwendung des Modells selbst. (WEISS 2000 b, S. 41)
Spätestens seit Anfang der 1980er Jahre treten zudem zunehmend Ausnahmen bzw. erhebliche Abweichungen vom normalen Verlauf der Transition auf. In vielen der ärmsten Länder hält die mitteltransformative Phase nun schon über zwei, z. T. sogar schon drei Generationen an, so dass statt eines allmählichen Rückgangs der Geburtenrate deren signifikante Erhöhung zu beobachten ist, wie z. B. in Kenia .

Geburten- und Sterberate sowie Bevölkerungswachstum in Kenia von 1900 bis 1980

Quelle: Gaumnitz 1990, S. 31.

Das wirkt sich zunächst auf den Altersaufbau der Bevölkerung aus, indem sie eine besonders breite Basis bekommt. Der Anteil der Bevölkerung unter 15 Jahre kann bis zu 45 % und mehr erreichen, womit das Modell allein schon dadurch gesprengt wird, dass sich beim Übergang der Kinder und Jugendlichen ins fertile Alter selbst bei stark verringerter Fruchtbarkeit eine erhebliche Steigerung der Geburtenrate einstellen wird (CLARKE 1985b). Das wird mit Hilfe der DEMOLA-Projektion besonders plastisch dargestellt. Zumindest in diesen Ländern dürfte damit die eigentliche Bevölkerungsexplosion erst bevorstehen!

Altersgliederung in der demographischen Transition, dargestellt in der DEMOLA-Projektion
Quelle: LEIB / MERTINS 1983, S. 80

Letztlich ist die Demographische Transition sowohl in ihrer inhaltlichen Bedeutung als auch zeitlich begrenzt. Für eine generelle Projektion der Bevölkerungsentwicklung ist dieses Instrument nicht geeignet, wohl aber für eine Beschreibung und Interpretation von Teilprozessen und zunehmend der räumlichen Differenziertheit.
Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der raum-zeitliche Vergleich der Geburten- und Sterberaten in den Ländern der GUS (Gemeinschaft unabhängiger Staaten), deren regionale Entwicklung außerordentlich differenziert und momentan besonders dynamisch verläuft . Dabei sind insbesondere die europäischen Gebiete bereits zur Zeit der Sowjetunion in der Demographischen Transition weit fortgeschritten gewesen und z. Z. dabei, dieses Modell regelrecht zu sprengen. Dagegen verharren die muslimisch geprägten mittelasiatischen Staaten - bei aller Veränderung seit dem Zusammenbruch der UdSSR - auf einem transitiven Niveau, das afrikanischen Entwicklungsländern ähnelt. Besonders bemerkenswert ist der sich herausbildende Unterschied zwischen Stadt und Land, der vor 1990 innerhalb der einzelnen Unionsrepubliken im Verhältnis zu heute kaum signifikant war.

 
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