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Ein weiteres Problem bei der Anwendung des Modells besteht häufig in der Generalisierung der Ursachen für unterschiedliche Teilprozesse in den verschiedenen Regionen. Oft werden Unterernährung und Hunger, Hygiene und Medizin, religiöse Fertilitätsgebote und Familienplanung unzulässig vermengt. Sie gehören zu unterschiedlichen Kategorien, die sich lediglich zeitgleich ergänzen oder gegeneinander wirken. Bei vielen Autoren wird z. B. zuerst auf die Verbesserung der medizinischen Versorgung und der allgemeinen Hygiene verwiesen, wenn es um die Verringerung der Sterblichkeit geht. In bezug auf die Entwicklungsländer mag das auch stimmen. Im Prozess der Industrialisierung jedoch spielte, wie bereits MOMBERT (1929) feststellte, zunächst die erhebliche Erweiterung des Nahrungsmittelspielraums die entscheidende Rolle, was für die meisten Entwicklungsländer im notwendigen Umfang bis heute nicht der Fall ist. Auf der gleichen Ebene liegen Differenzen bei der Einordnung der Mittel- und osteuropäischen Staaten. unten stehende Tabelle ist der Versuch, diesbezüglich eine gewisse Ordnung herzustellen.
Ursache-Wirkungs-Gefüge von Teilprozessen der demographischen Transition
Quelle: WEISS 2000b.
Die drastischen Einbrüche Mittel- und Osteuropas in der Fertilität nach Ende des Kalten Krieges passen ebenfalls in keines der klassischen Schemata, da eine so starke und lang anhaltende Unterschreitung der Sterberate durch die Geburtenrate für ganze Staaten - und in diesem Falle ja sogar darüber hinaus - zu Friedenszeiten noch niemals nachgewiesen worden sind. Die eigentlich auf die politischen und ökonomischen Verhältnisse abzielende und Ende der 1990er Jahre üblich gewordene Bezeichnung dieser Staaten als "Länder in Transition" ist darum aus bevölkerungsgeographischer Perspektive regelrecht misslungen. Der demographische Prozess, der hier stattfindet, ist im Unterschied zur "Demographischen Transition" als Erklärung der Bevölkerungsexplosion besser als Demographische Implosion zu bezeichnen. Ob damit eine völlig neue Phase der demographischen Transition eingeleitet wurde oder ein anderer Typ von Transition entstand bleibt abzuwarten. Es ist auch durchaus möglich, dass unter den kinderfreundlichen Bedingungen und der pronatalistischen Politik der Staaten Osteuropas vor 1990 viele Frauen ihren Kinderwunsch einfacher ausleben konnten als in ihrer heutigen Situation.
Die natürliche Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland nach 1989
ist generell vorrangig durch den auf absehbare Zeit irreversiblen Übergang zu anderen Niveaus im generativen Verhalten gekennzeichnet, wodurch ein erheblicher Sterbefallüberschuss eingeleitet wurde. Die sprunghafte Verringerung der Geburtenzahl hat viele Gründe. Zu den wichtigsten demographischen (!) Ursachen, von denen einige durch Bevölkerungswissenschaftler der DDR bereits Mitte der 80er Jahre in damaligen Prognosen angesprochen wurden, gehören die folgenden:
- Das "demographische Echo" des "Pilleknicks" (Geburtenrezession von 1973-76 nach der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und der kostenlosen Freigabe der Pille 1972); dadurch wurde ein zeitweiliger Geburtenausfall von ca. 30-35 % bewirkt.
- Die Neuordnung der Geburten in der Biographie der potentiellen Mütter unterliegt einem Anpassungsprozeß an die Alt-BRD, wobei ein gewisses "time-lag" (Zeitsprung) nach folgendem Mechanismus vorübergehend zu Geburtenausfällen von etwa sechs bis acht Jahren führte:
Das durchschnittliche generative Verhalten der Frauen in der DDR unterschied sich in den 80er Jahren gegenüber der BRD nicht nur durch eine ca. 40 % höhere Fruchtbarkeit, sondern auch durch eine besonders frühe Platzierung der Geburten in der Biographie der Mütter. Man kann also davon ausgehen, dass die meisten jungen Frauen bis 1989/90 mit 21 bis 23 Jahren ihre Reproduktion bereits abgeschlossen hatten. Das war aber für alle jüngeren Frauen und Mädchen irrelevant.
Mit dem Fall der Mauer fielen auch jene existentiellen Bedingungen weg, welche in der DDR eine frühere Schwangerschaft ermöglichten bzw. provozierten. Besonders deutlich wirkte sich der Wegfall von sozialpolitischen Leistungen für junge Mütter im Studium und in der Berufsausbildung aus (Wohnheim- und Kinderkrippenplatzgarantie, Sonderstudienpläne zur Absicherung des Ausbildungserfolges, Arbeitsplatzgarantie für Absolventen etc.). Jene jungen Frauen also, welche bis 1990 noch nicht in die Reproduktion eingetreten waren, orientierten sich sofort an den nunmehr gesamtdeutschen Rahmenbedingungen des Westens. Der wichtigste Effekt ist dabei die Zurückstellung der Kinderwünsche, insbesondere der ersten Schwangerschaft.
- Im sozialen Anpassungsprozess verringerte sich die Summe der alterspezifischen Fruchtbarkeit, was einen zusätzlichen Geburtenrückgang von etwa 25 % induziert. Das wird von einem demographisch wirkenden medizinischen Faktor begleitet: Mit späterer Erstgeburt steigt das Geburtsrisiko und sinkt die Wahrscheinlichkeit von Folgegeburten.WEISS 2000b, S. 43 f.
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Für viele Demographen besteht indes kein Zweifel am theoretischen Gehalt des Modells. So sieht KHALATBARI (1983; 1999) die demographische Transition als eine spezifische Unterbrechung der Kontinuität der Bevölkerungsentwicklung. Sie ist ein zwar seltener, doch immanenter Bestandteil der historischen Bevölkerungsbewegung. Sie bringt die Umwandlung von einem demographischen Reproduktionstyp zum anderen zum Ausdruck, wobei die Typen der menschlichen Reproduktion enge Beziehungen zum Charakter der Produktionsweise und der ökonomischen Ordnung aufweisen. Für MACKENSEN (1999) ist der Ansatz von KHALATBARI schon nahe an einem allgemeinen Populationsgesetz für die menschliche Gesellschaft, zumindest aber eine gelungene Synthese mit modernsten Erkenntnissen sowohl der Evolutionsbiologie als auch der Humanökologie, welche ebenso auf Europa wie auf die Entwicklungsländer anwendbar ist.
Während die Phasen der demographischen Transition Ausdruck für die zeitliche Dimension des Modells sind, widerspiegelt sich die räumliche Komponente im gebietlich unterschiedlichen Eintritt und der Verweildauer im Transitionsprozess. Dabei wird sofort deutlich, warum das Modell so leicht verständlich und handlich ist: Bei den meisten Länder der Erde korreliert die Platzierung entlang der Zeitachse im Modellverlauf stark mit den meisten Merkmalen der Entwicklung in der Wirtschaft, der ökonomischen und juristischen Emanzipation der Frau, dem allgemeinen Bildungsniveau und dem Lebensstandard, dem Verstädterungsgrad sowie dem Beschäftigtenanteil in der landwirtschaftlichen Primärproduktion. Die Zuordnung erfolgt zwar nicht linear, wird aber maßgeblich durch die am höchsten entwickelten Industrie- und postindustriellen Staaten einerseits und die rückständigsten Länder andererseits gestützt.
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