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Komplexe Gruppierungsmerkmale - 1
 
 

Die in der Literatur zumeist als komplexe(re) Merkmale der Bevölkerung ausgewiesenen Gliederungsmöglichkeiten unterscheiden sich von den eher einfachstrukturierten Gruppenbildungen als andere kategoriale Ebene. Sie treten zumeist als Merkmal einer Gesamtbevölkerung zu deren externer Unterscheidung gegenüber einer anderen auf, wogegen die eher einfacheren Merkmale die innere Gliederung dieser Bevölkerung beschreiben. Die Unsicherheit der Begriffsbestimmung leitet sich u. a. aus der unterschiedlichen inhaltlichen Belegung von "sozial" und "Gruppe" in verschiedenen Begriffssystemen ab. Die Geographie muss darum zwar keinen eigenen Begriffsapparat dazu entwickeln, doch die existierenden Begriffe sollten immer wieder hinterfragt werden.
Soziale Gruppen sind im allgemeinen räumlich unterschiedlich verteilt und haben eine mehr oder weniger stark ausgeprägte territoriale Bindung. Unter diesen Gemeinschaften nehmen Völker, Nationen und Nationalitäten eine besondere Stellung ein. Im allgemeinen Sprachgebrauch sind diese Begriffe vielschichtig, inhaltlich unterschiedlich belegt und voneinander nicht klar abgegrenzt.
Völker, Nationen, Nationalitäten (siehe Übersicht) und anderen Gemeinschaften sind für die Bevölkerungsgeographie á priori vorhanden, unabhängig davon, wie sie in anderen Wissenschaften bzw. Wissenschaftszweigen definiert werden oder wie sie sich selbst definieren. Letzteres dürfte gerade für die Geographie der bessere Ansatz sein, als eine solche soziale Gruppe von außen zu definieren. Das um so mehr, als dass das Selbstverständnis einer Gruppe mit zu deren Raumwirksamkeit beiträgt - was spätestens bei Territorialansprüchen deutlich wird.
Zudem durchlaufen alle diese Gruppen immer eine historische Entwicklung mit differenter zeitlicher Konkordanz zu anderen Gruppen, was sowohl für den Zeitraum der Herausbildung als auch für die Dynamik der Entwicklung gilt. Somit sind Völker, Nationen und Nationalitäten zugleich historische Kategorien, die zueinander zum Teil in einer engen Beziehung stehen. Zu beachten ist, dass auch diese Begriffe selbst zumindest in den vergangenen 150 Jahren eine erhebliche Entwicklung vollzogen haben und auch im Selbstverständnis der verschiedenen Gruppen different belegt sind, so dass sie sich nicht immer einheitlich übersetzen lassen.

Das Volk ist aus historischer Perspektive eine Form vornationaler menschlicher Gemeinschaftsbildung; es ordnet sich damit in eine histogenetische Entwicklung von frühgeschichtlichen Horden über Gentes und Stämme zu eher neuzeitlichen Völkerschaften und Völkern ein, welche sich in der Zeit der Industrialisierung zu verschiedenen Nationen zusammenschlossen. Solche Völker oder Völkerschaften bilden sich durch eine artverwandte Sprache auf einem gemeinsamen Territorium heraus; ihre existentielle Grundlage ist die vorindustrielle Produktionsweise. Mit der Entwicklung zur Nation heben sich die charakteristischen Merkmale eines Volkes allerdings nicht auf, sondern gehen zuweilen auf den Begriff der Nation über, weshalb vielfach Volk und Nation sogar gleichgesetzt werden.
Umgangssprachlich wird der Begriff Volk wesentlich breiter verwendet. So steht er einerseits für eine Gruppe von Menschen im Sinne von Ethnie und andererseits für die Gesamtbevölkerung bzw. die Einwohner eines Landes, was wir zum Beispiel im Begriff Volkszählung wiederfinden.

Der allgemeine Unterschied des Volkes zur Nation besteht in der stärker emotionalen Erfahrungen der sozialen Gemeinschaft, wogegen die Nation eher Elemente der politischen Willensbildung ausdrückt. Damit ist die Nation eine Existenz- und Entwicklungsform der Gesellschaft, eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, die sich im allgemeinen mit dem Übergang zur industriellen Produktion herausbildete und sich im bürgerlichen Nationalstaat politisch organisierte. Zu den Merkmalen einer Nation gehören vor allem die Gemeinsamkeit des Wirtschaftslebens, des Territoriums, der Sprache, der Kultur und der sozialen Psychologie, wobei letztere auch die Ausprägung eines gemeinschaftlichen Bewusstseins mit einschließt. Volk und Nation sind in spezifischer Weise über den bürgerlichen Nationalstaat verknüpft, da jener das Volk im Sinne der Gesamtbevölkerung als Souverän voraussetzt. - Davon unabhängig zeigt sich der historische Charakter der Nationen heute an den sich veränderten Bedingungen: Einerseits fehlen bei jenen Ethnien, die sich seit dem Zerfall der Kolonialreiche zu Nationalstaaten organisieren wollen, oft die ökonomischen Voraussetzungen (Übergang zur Industriegesellschaft) und die politischen Bestrebungen zur Überwindung z. B. der Clans und Stammesgesellschaften, womit die entstehenden politischen Strukturen oft nicht im Sinne der westlichen Demokratien als bürgerliche Nationalstaaten anzusprechen sind. Andererseits verringert sich im Prozess der Globalisierung die Bedeutung der Nationalstaaten durch Regionalisierung und Migration.

Nationalität ist ein doppelt belegter Begriff. Er kennzeichnet zum einen die Zugehörigkeit eines Menschen zu einer Nation, z. B. die Angehörigen der deutschen Nation, welche unabhängig ihrer Staatsangehörigkeit deutscher Nationalität sind. Zugleich werden Volksgruppen innerhalb eines Vielvölkerstaates bzw. eines Staates mit mehreren Nationalitäten oder Minderheiten als Nationalität bezeichnet, z. B. die Wolgadeutschen mit russischer Staatsangehörigkeit oder die Südtiroler in Italien. Für die Beziehung der Völker untereinander ist dabei - insbesondere im Konfliktfall - zusätzlich von Bedeutung, ob es sich bei der jeweiligen Nationalität um eine ausschließliche Ethnie (z. B. die Sorben in der Lausitz) oder um den räumlich unterschiedenen Teil einer größeren Gemeinschaft z. B. innerhalb einer anderen Nation handelt (z. B. die Dänen in Schleswig).
Im Rechtssinn einiger sich eher völkisch definierenden Nationalstaaten wird die Nationalität auch auf den Begriff der Staatsangehörigkeit angewendet, wogegen in anderen Staaten (z. B. in den USA) die Staatsangehörigkeit eher mit der Nation identifiziert wird.

Die Beschäftigung mit Ethnien ist in der Bevölkerungsgeographie bereits traditionell. Ethnien sind - bei alle Vorsicht hinsichtlich des Kulturbegriffes - soziale Gruppen, die der gleichen Kultur angehören. Sie können in unterschiedlichen Erscheinungsformen auftreten, z. B. als Volk, als Sprachgemeinschaft, als Nationalität oder als Nation. Die vielfältigen Klassifikationsmöglichkeiten widerspiegeln u. a. wechselnde Dominanzen bei der Herausbildung von Ethnien, aber auch unterschiedliche Perspektiven in der Betrachtung, z. B. bei einer Definition aus Sicht der Völkerkunde oder der Ethnographie. In der Geographie ist bislang kein allgemein anerkanntes System der Abgrenzung von Ethnien zur Anwendung gekommen. Vielleicht ist das auch gar nicht sinnvoll, denn hinter einer solch umfassenden Frage würde das Geographische, z. B. der raumprägende Einfluss verschiedener Ethnien, eher zurücktreten. Darum behandelt die Geographie die Ethnien zumeist nach den räumlichen Bedingungen ihrer Entstehung, ihre regionale Verteilung und die räumliche und organisatorische Stellung zu anderen Gruppen.

 
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