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Ausgewählte Migrationsmodelle 2
 
 

Zuletzt sei an dieser Stelle der grundlegende Ansatz zur Erklärung von Wanderungen nach ZELINSKY vorgestellt. Analog zur demographischen Transition erstellte er eine "Hypothese der Mobilitätstransition" (1971). Dabei wird das durchschnittliche Mobilitätsverhalten einer Gesellschaft mit ihrem sozioökonomischen Entwicklungsstand verbunden, wobei ebenfalls fünf Phasen unterschieden werden (zit. bei BÄHR 1983, S. 282f; gekürzt):

  1. In vorindustriellen Gesellschaften sind bei insgesamt geringer räumlicher Mobilität kleine Bewegungsradien typisch. Ausnahme: Die sporadische Wanderungen ganzer Völker.
  2. Während der initialisierten Industrialisierung wird die frühtransformative Phase der demographischen Transition ausgelösten. Der nachfolgende Bevölkerungsdruck ergießt sich in die ersten Industriestädte. Es kommt zu ersten Fernwanderungen in neue Siedlungsräume.
  3. In der mittleren Phase der demographischen Transition kommt es zum relativen Rückgang des ursprünglichen Bevölkerungsdrucks zugunsten der Fernwanderungen und der Wanderungen zwischen und innerhalb der Städte.
  4. In modernen Gesellschaften nimmt die räumliche Mobilität insgesamt stark zu und gewinnt neue Inhalte (z. B. Freizeit). Reichweite und Frequenz haben sich jedoch gegenüber vorher deutlich verändert. Zur Migration zwischen den Städten kommen immer stärker die zyklischen Bewegungen (Pendler). Auswanderungen nach Übersee treten zurück, Zuwanderungen von Gastarbeitern und Immigranten in die Industriestaaten gewinnen an Bedeutung.
  5. In einer zukünftigen nachindustriellen Gesellschaft soll die räumliche Mobilität durch Substitution insbesondere der informellen Bewegungen, durch moderne Kommunikationssysteme deutlich verringert werden.

Bei aller Unzulänglichkeit, u. a. durch die Vernachlässigung der zuweilen dominanten politischen Bedingungen, dürfte dieses Modell ein guter Ordnungsrahmen für die Strukturierung zusammenfassender Betrachtungen von Mobilitätsvorgängen sein. Auch als Arbeitshypothese für raum-zeitliche Vergleichsuntersuchungen stellt es mit seinem idealtypischen Verlauf eine wichtige Überlegung für künftige Forschungsstrategien dar (BÄHR 1983, S. 282). Zudem ist es kompatibel zu den modernen theoretischen Vorstellungen über die bisherige und auch die zukünftige Entwicklung des Verkehrs, sofern er nicht nur der organisatorisch-technologische Rahmen räumlicher Bevölkerungsbewegungen ist, sondern aus der früheren Position der Voraussetzung von Mobilität immer mehr zu deren Medium wird. Das betrifft insbesondere die Veränderungen raum-zeiltlicher Beziehungen von Standorten in Mittel- und Nahbereichen. Wenn aus dieser Perspektive z. B. der "Stadt-Land-Verbund als die Siedlungsform des 21. Jahrhunderts" verstanden wird (HEINZE, KILL 1992, S. 28 f.), dürften sich zumindest in dieser Dimension neue Muster der kleinräumigen Verteilung und Umverteilung der Bevölkerung ergeben. Das ist auch insofern von Bedeutung, als die zukünftige Bevölkerungsentwicklung vorrangig auf die städtischen Räume orientiert sein wird, welche dann allerdings weniger als die heutigen Kernstädte als eher diese mit ihren funktional verbundenen Rändern zu verstehen sein werden.
Die meisten theoretischen Überlegungen und Modelle zur Migration gehen im einzelnen oder kombiniert auf folgende drei geographischen Ansätze zurück - das Distanz-Gravitationstheorem, der Regressionsansatz und die probabilistischen Modelle. Da auch viele andere Raum-Zeit-Modelle darauf basieren, sollen hier nur die stärker bevölkerungsgeographisch relevanten Momente angeschnitten werden.

Distanz- und Gravitationsmodelle (vgl. BÄHR 1983, S. 296ff)

Der Umfang der Interaktion (Migration) zwischen räumlichen Einheiten verhält sich negativ exponentiell zur Distanz, d.h. je größer die Distanz, desto geringer ist die Interaktion. Der Exponent ist ein empirisch zu bestimmender Koeffizient, welcher - ähnlich wie im NEWTONschen Masseanziehungsgesetz - nahe bei 2 liegt. Als "Massen" gelten im Gravitationsansatz die potentiell wandernden Personen, d.h. die Einwohner der betrachteten Raumeinheiten mit einem normierten Migrationspotential. Oft werden die "Massen" sogar mit den Bevölkerungszahlen gleichgesetzt. Es lässt sich rechnerisch leicht nachvollziehen, dass das Wanderungsvolumen nicht nur ansteigt, wenn sich die Distanz verringert, sondern auch, wenn die Masse von zwei betrachteten Regionen größer ist als die Masse anderer Regionen. Mit freiem Distanzexponenten lautet der Ansatz:


Sowohl die Bestimmung der "Massen" als auch das Messen der Distanz kann zu Verzerrungen führen, denn die Bevölkerung ist hinsichtlich ihrer Wanderungspotentiale ebenso unterschiedlich wie die Distanzen bezüglich der Effektivität verschiedener Verkehrswege. Darum sollte als Masse eher die migrationslatente Bevölkerung ermittelt werden, und als Distanz statt der Luftlinie eine relative Distanz, wie z. B. die effektive Reisezeit.

Regressionsmodelle (vgl. BÄHR 1973 und 1983, S. 300f; BAHRENBERG / GIESE / NIPPER 1990, S. 134ff)

Im Wanderungsprozess kommen maßgebliche Faktorengruppen zur Geltung, welche sowohl die Distanz als auch die Anzahl potentieller Migranten relativieren. Das sind qualitative Parameter des Herkunfts- und des Zielgebietes, intervenierende Hindernisse (z. B. Einwanderungsgesetze als juristische Restriktionen, Transportkosten) und qualitative Parameter der potentiellen Migranten (z. B. Alter, Intelligenz). Vielfach werden Merkmale, welche die Migrationsmotive beeinflussen, von einzelnen beteiligten Individuen auch nur als positiv oder negativ "empfunden", was ihre Bedeutung für die Realisierung der Migration aber keineswegs schmälert.
Derartige Merkmalskomplexe abzubilden und zu erklären, wird mit Hilfe der statistischen Regressionsanalyse versucht. Dabei sind die regulierenden Variablen als "anziehende" und "abstoßende" Kräfte (push- und pull-factors) quasi-kausal verknüpft (bedingte Wenn-Dann-Beziehung).
Mit Hilfe der multiplen Regressionsanalyse soll so z. B. die abhängige Variable "Wanderungsvolumen" mit mehreren unabhängigen Variablen (z. B. Durchschnittseinkommen, Zahl der Arbeitsplätze in verschiedenen Branchen, Wohnungsangebot etc.) erklärt werden. Das Ziel ist eine Regressionsgleichung, welche die Ausprägungen der Zielvariablen aus einer mathematischen Funktionsbeziehung der erklärenden Variablen ableitet. In der Aussage soll diese Funktion zwar dem Distanz- und dem Gravitationsmodell entsprechen, dürfte aber ungleich komplexer ausfallen.
Bei allen mathematischen Verfahren ist der messbare Zusammenhang von Variablen, der z. B. durch Korrelations- oder Regressionskoeffizienten ausgedrückt werden kann, nicht mit einem kausalen Zusammenhang zu verwechseln, denn letzteres ist eine sachlogische Frage. D. h., dass mathematisch dargestellte funktionale Abhängigkeiten nicht unbedingt die eigentlichen Determinanten der Migration sichtbar machen. Darum ist es bei der Regressionsanalyse - wie auch bei anderen Verfahren - besonders wichtig, die Auswahl der die Migration erklärenden unabhängigen Variablen richtig zu begründen (BÄHR 1973, 388).

Probabilistische Wanderungsmodelle (vgl. BÄHR 1983, S. 304f)

Im Unterschied zu den deterministischen Modellen gibt es auf individueller Ebene lediglich die Möglichkeit, Wanderungsentscheidungen im Rahmen wahrscheinlichkeitstheoretischer (probabilistischer) Kalküls zu bestimmen. Dabei werden auch Unterschiede, die Wandernde im Informationsgrad über den Standort haben, berücksichtigt.
Eine solche Formalisierung mündet in einem behavioristischen Ansatz, in dem das Such-, Wahrnehmungs- und Bewertungsverhalten der Migranten mit Entscheidungsalgorithmen verknüpft wird. Die daraus abgeleiteten Entscheidungsmodelle ähneln letztlich den allgemeinen Flussdiagrammen kybernetischer Prozesse. Der Vorteil dieses Ansatzes besteht in der Orientierung auf die persönliche Befindlichkeit der Migranten, die in ausgewählten Gruppen sogar eine höhere Wertigkeit als die Standortstruktur haben kann.

 
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